In dieser Wohnung am Sachsenhäuser Berg verliert der Besucher leicht den Bezug zu Zeit und Raum. Er taucht ein in die Sammlung von 220 alten Zeiss-Kameras, die allein einen Raum füllt. Er streift durch die Geschichte des traditionellen Jazz in Deutschland, an der Bernd K. Otto mitgeschrieben hat. Oder er lässt sich von dem studierten Biologen in die Biodiversitätsforschung entführen, die der 72-Jährige in einem Dorf in der bayerischen Rhön betreibt, seiner zweiten Heimat.
Einem mehr als deutschlandweiten Publikum ist der gebürtige Hannoveraner vor allem als Meister des Tenor-Banjos bekannt geworden. Seit Jahren versammelt er als musikalischer Leiter in den Wochen vor Weihnachten – diesmal am 6. Dezember – renommierte Jazzmusiker in der Katharinenkirche in Frankfurt für ein mehr als dreistündiges Konzert zugunsten der Altenhilfe der Frankfurter Rundschau.
Mit der Barrelhouse Jazzband tourte er von 1975 bis 1995 durch 30 Länder, reiste von Südamerika bis Nordafrika, bevor er sich eigenen musikalischen Projekten zuwandte. Er spielte bis heute mehr als 25 Platten und CDs ein. Bei all diesem Erfolg ist Otto ein bescheidener Mensch geblieben, der ohne großen Aplomb auftritt, leise spricht und über einen verschmitzten Humor verfügt.
Zum Banjo fand er 1961 „durch meinen vier Jahre älteren Bruder, der damals schon Jazz-Platten hatte“. Die beiden liebten den Revival Jazz des britischen Posaunisten Chris Barber, der damals auch Blues und Folk nach Deutschland importierte. Und Otto verliebte sich in das Banjo, „das einzige Instrument, das in den USA entwickelt wurde“, das aus der Musik der schwarzen Sklaven des 19. Jahrhunderts hervorging. Es war „der einzigartige Sound“ des Banjos, der den jungen Musiker anzog, der blechern klingt und zugleich differenziert.
An der Musikschule Frankfurt lernte er von 1965 an bei großen Vorbildern wie dem heute 94-jährigen Tenorsaxofonisten Emil Mangelsdorff.
Wer Otto einmal als Musiker erlebt hat, der weiß, dass er das Banjo weiterentwickelt hat über das reine Begleitinstrument hinaus, als das es oft abgetan wird. Im „Jazz-Life“, dem legendären Treff in der Kleinen Rittergasse, spielte er dann vor, als über eine Anzeige ein „Banjo-Spieler zum Mitjammen“ gesucht worden war. Der Klarinettist Reimer von Essen, Kopf der Barrelhose Jazzband, erkannte sein Talent – wenig später war er Mitglied der Band. Drang tief ein in die Geschichte des Jazz, lernte Noten, was als etwas Besonderes galt. „Ich habe 800 Banjo-Spieler kennengelernt – viele besaßen keine Notenkenntnisse.“
Geradezu zärtlich nimmt er sein Lieblingsbanjo zur Hand, ein Instrument aus dem Jahr 1928, „das hat damals so viel gekostet wie zwei Chevrolets“. Und dann seine Stammgitarre, über und über bedeckt mit Autogrammen berühmter Musikerkollegen – so viele lernte er kennen bei seinen Reisen und spielte mit ihnen, von Champion Jack Dupree über Bob Degen und Heinz Sauer bis hin zu Charly Antolini und Jose Gallardo.
In seinen eigenen Bands hat er Dixieland, Swing und Bebop verschmolzen. Das gilt bis heute. „Ich wollte die Fäden in der Hand haben“, sagt er schlicht zur Frage, warum er sich selbstständig machte. Zwanzig Jahre lang traf er die Auswahl der Bands für das Festival „Bingen swingt“. Er hasst musikalisches „Schubladendenken“ und liebt die Grenzüberschreitung bei den Stilen. „Ich mag es nicht, wenn jeder Ton festliegt.“ In den Bands, die er leitet, ist Raum zur musikalischen Selbstentfaltung. Was nicht heißt, das jeder machen kann, was er will: „Bei mir gibt es eine Band-disziplin, das habe ich von den Amerikanern gelernt.“ Pünktliches Erscheinen, kein Alkohol während des Konzerts.
Eigentlich ist Otto ein Repräsentant der 68er-Generation. Demonstrierte mit den anderen Studenten in Frankfurt gegen die verkrusteten Verhältnisse an der Frankfurter Goethe-Universität. Seine Eltern wohnten nur 100 Meter entfernt vom US-Generalkonsulat an der Siesmayerstraße, das damals häufig Ziel von Demonstrationen war. „Natürlich war ich dabei, es war klar, dass ich etwas ändern musste.“
Otto sagt das ohne große Verklärung, zu der andere 68er neigen, geradezu mit Understatement. Das ist typisch für ihn. Natürlich gab es Konflikte mit den Eltern, sein Vater wollte unbedingt, dass er Beamter werden sollte. Der Sohn aber studierte Kunsterziehung und Biologie. Sein Lehrer war unter anderem Professor Albert Kiefer, der Vater des jungen Anselm Kiefer, dessen Entwicklung zu einem der wichtigen bildenden Künstler der Nachkriegszeit damals noch nicht absehbar war.
Otto und Anselm Kiefer studierten in der neuen Abteilung Visuelle Kommunikation. Otto begann zu fotografieren – seine zweite Leidenschaft. Seine erste wichtige Kamera war eine Perfecta aus der DDR. Er beschäftigte sich mit Aktfotografie. Und er unterstützte Anselm Kiefer, als dessen Karriere begann. 1978 veröffentliche Otto das erste Buch mit Arbeiten von Kiefer: „Die Donauquelle“ spielt mit den Mythen und Legenden, die sich um den Ursprung des Flusses ranken. Eine originale Arbeit Kiefers aus diesem Zyklus hängt in Ottos Wohnung an der Wand.
Es gibt Scheidewege und Kreuzungen im Leben, und Otto entschied sich dagegen, den Pfad als Fotograf einzuschlagen. Er liebt es bis heute, sich mit der Kamera künstlerisch auszudrücken. „Aber als Fotograf habe ich keine Perspektive gesehen.“ Der Student vollendete seine Ausbildung für das Lehramt und begann in Frankfurt an der Wallschule, mit lernbehinderten Kindern zu arbeiten. „Niemand wollte das machen, aber es war wichtig“, sagt er nur knapp. Das ist typisch für den früheren Lehrer: Über seine Motivation an den Schaltstellen seines Lebens verliert er nur wenige Worte.
So engagierte er sich 28 Jahre lang für die jungen Menschen aus mehr als zehn Nationen, die oft halb auf der Straße lebten, in Kriminalität verstrickt waren. „Herr Otto, sollen wir Ihnen eine Uhr mitbringen?“, boten die Heranwachsenden ihm an, wenn sie einen Laden für einen Einbruch ausbaldowert hatten. Der Lehrer lehnte dankend ab. Er erinnert sich noch heute an eine Phase, in der die 15- oder 16-Jährigen in seiner Klasse auffaltend gut gekleidet waren. „Später fanden wir in der Dachrinne der Schule Bündel von Tausend-Mark-Scheinen“, die aus einem Einbruch stammten. Bis zu seinem Ruhestand 2001 arbeitete Otto mit den Kindern und Jugendlichen aus sozial schwierigen Verhältnissen – für ihn noch heute eine sehr wichtige Zeit in seinem Leben.
Mit der Pension schob sich neben der Musik eine andere Leidenschaft in den Vordergrund: die Biologie. In Zeitlofs in der bayerischen Rhön, einem Dorf mit 600 Einwohnern, in dem er mit Ehefrau Renate seinen zweiten Wohnsitz hat, engagiert er sich in der Biodiversitätsforschung. Es treibt ihn mächtig um, dass „die Artenvielfalt deutlich rückläufig“ ist, auch fern der Großstadt Frankfurt in einem Landstrich, in dem die Welt nur scheinbar noch in Ordnung ist.
In akribischer Kleinarbeit legte Otto in Zeitlofs einen Biogarten an, in dem er seltene Pflanzenarten hegt, unter anderem „50 verschiedene Farne“, wie er stolz sagt. Er führt Besucherinnen und Besucher durch die Wälder seiner zweiten Heimat, auf der Spur bedrohter Natur.
„Es geht darum, den Blick zu schulen, selbst Biologen haben damit echte Probleme.“ Die Ausbildung lasse mittlerweile zu wünschen übrig. Er registrierte, dass in der bayerischen Rhön durch den Klimawandel immer mehr „Pflanzen aus dem Mittelmeerraum“ heimisch geworden sind, deren Keimlinge durch Importware nach Deutschland gelangen. Sie überlebten etwa durch Feuchtigkeit, die sich in Autoreifen sammele.
Ein Gespräch mit Bernd K. Otto über sein Leben, das Panorama seiner Interessen, gerät zum mäandernden Strom. Beim Gang durch seine Wohnung fallen stets neue Kapitel ins Auge. Seine Sammlung von Zeiss-Kameras und Objektiven etwa findet ihren Widerhall in etlichen Fachzeitschriften in aller Welt. Das Unternehmen Zeiss selbst hat einen aufwendigen Film über die Objekte und den Sammler gedreht.
Otto wiederum hat vor einigen Jahren ein umfangreiches Standardwerk über die Produkte des Optik-Unternehmens verfasst, unter dem Titel „Carl Zeiss Camera Register 1902–2012“.
Der Musiker ist ein Wanderer zwischen den Welten. Und doch bleibt der Jazz seine größte Passion. 2005 gründete er mit Max Greger junior und anderen die Band „Strings only“, 2009 wurde er musikalischer Leiter der „Red Hot Hottentots“. Seine Fans in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet können ihn unter anderem bei regelmäßigen Auftritten im Historischen Museum in Frankfurt erleben, 49 Konzerte hat er dort bereits mit der Formation „HMF Allstars“ gegeben.
Otto scheint bei all diesen Aktivitäten sehr in sich zu ruhen. Er plant als nächstes eine Zusammenarbeit mit dem renommierten Posaunisten Nils Landgren, einem der erfolgreichsten europäischen Jazzmusiker, der Jazzliebhabern in Deutschland durch seine Band „Funk Unit“ und durch seine Auftritte mit dem Pianisten Michael Wollny bekannt wurde.
Um diese prominenten Partner macht Otto allerdings kein großes Aufhebens. „Du musst selbst Qualität haben, alles andere kommt dann“, sagt der Bandleader. Claus-Jürgen Göpfert