Noch immer wohnt Gerald S. in jenen zwei Zimmern, die schon sein Vater genutzt hat. „Erster Stock mit Balkon, seit 20 Jahren“, sagt der Sindlinger, zugleich aber auf den eigenen Bewegungsdrang verweisend: „Ich bin mehr unterwegs als zu Hause.“
Der Senior liebt es, mit Bus und S-Bahn bis nach Hanau und Wiesbaden zu fahren, auch in die Frankfurter Innenstadt natürlich. „Die 30 Euro für meine Monatskarte investiere ich gerne.“
Dass der 76-Jährige anspruchslos ist, wird schnell klar. „Mir bleiben nach Abzug der Lebensmitteleinkäufe maximal 50 Euro im Monat – aber ich kann davon leben.“ Die Mietswohnung kostet monatlich knapp 400 Euro, an Rente bekommt der Mann 722 Euro, zu der sich noch eine Grundsicherung gesellt. Gerald S. hat sich mit dem Wenigen arrangiert, kauft im Discounter auf Vorrat, friert ein, versorgt sich selbst. „Ich fühle mich wohl.“
Wegen „Luftnot“ war er vor kurzem im Krankenhaus – ist aber längst wieder auf dem Damm. Auf den Beinen hält ihn sein Wahlspruch „Wer rastet, der rostet“. Kaum ein Tag, an dem er nicht in die Umgebung reist, „sich alles anschaut“ – stets das Wasserfläschchen zum Nachfüllen im Säckel. Ohne Kaufwunsch kann der in Unterfranken Geborene durch Einkaufszentren und Kaufhäuser – „wo man sich aufwärmen kann“ – bummeln, Eindrücke sammeln.
Das Unterwegssein war stets seine Sache. Schon mit 13 Jahren tritt er in die Farbwerke Hoechst ein, wo auch der Vater arbeitet. Die aus Völkersleier gebürtige Familie – zu der sechs Kinder gehören – zieht 1953 nach Zeilsheim um. Wenige Jahre nur, dann verlässt der junge Mann die Farbwerke als Betriebsfachwerker und heuert bei einer Frankfurter Gerüstbaufirma an.
Schwere Arbeit, wilde Zeiten: „Da ging es rau zur Sache, da flogen zuweilen die Fäuste.“ Noch heute schwärmt Gerald S. von jenem „wahren Leben“, in dem Stahlgerüste gewuchtet und zwei Ehen geschlossen werden. Er wechselt das Metier, verlässt die „Girls“. Quartalssaufereien wirken sich nicht auf die Körperkraft aus, in Okriftel werden Holzpaletten hergestellt, in Frankfurt Gebäude geputzt. An den Wochenenden ist er als Reinigungskraft in einer Wiesbadener Klinik tätig.
Trotz gutem Verdienst reicht das Geld nie: „Da hatten sich während der Ehejahre immense Schulden aufgetürmt.“ Im Januar 1999 ist der Umtriebige zum ersten Mal schuldenfrei. Mit einer Hausmeisterstelle bei der Schwester in Höchst endet das Berufsleben. „Ich war arbeitslos und ohne Rücklagen für das Alter.“
Alkohol und Zigaretten sind keine Themen mehr – umso mehr wächst die Begeisterung für den Angelsport. Ein Hobby, das mit zunehmenden Jahren schließlich aufgegeben wird. Mit den fünf Geschwistern – „zwei davon leben in den USA“ – verbindet ihn ein regelmäßig-vertrauensvoller Austausch. „Und im Advent stelle ich den alten Christbaum meines Vaters als schmückendes Andenken ins Zimmer.“
Seit mehr als einem Jahrzehnt empfängt er voller Dankbarkeit die Zuwendungen der Altenhilfe. „Das ist so wichtig für das Selbstbewusstsein!“ Er sei dann stets mit erhobenem Haupt unterwegs – immer aber abwägend, was er notwendig brauche. Seine Wunschliste für 2020 ist bereits vollendet: „Winterschuhe, eine schöne Jacke und zwei dicke Hemden.“ Olaf Velte