Henriette K. erinnert sich an Konzertbesuche, die sie sich heute nicht mehr leisten kann. Doch die Berlinerin hat den Lebensmut nicht verloren. „Es wird schon alles“ , sagt die 77-Jährige. Und: „Anderen Leuten geht es viel schlimmer.“
Die mittlerweile in Wiesbaden Beheimatete lobt das deutsche Sozialsystem – und ist glücklich, dass es die Altenhilfe gibt. Von der diesjährigen Zuwendung möchte sich Henriette K. einen kleinen, energiesparenden Kühlschrank oder eine neue Winterjacke kaufen. „Da freut man sich auf Weihnachten!“
Weil Atembeschwerden sie quälen und das Laufen beschwerlich geworden ist, verbringt K. die meiste Zeit in ihrer im oberen Stockwerk gelegenen Zwei-Zimmer-Wohnung. 1971 ist sie mit ihrem damaligen Mann nach Wiesbaden gekommen – 13 Jahre später wurde die Ehe geschieden. „Der Tod meines jüngsten Sohnes hat das Leben sehr verändert“ , sagt sie rückblickend.
Ein Leben, das selten in ruhigen Bahnen verlaufen, voller Wechselfälle gewesen ist. 1943 in Deutschlands Hauptstadt zur Welt gekommen, verliert Henriette K. früh ihren kurz vor Kriegsende als vermisst gemeldeten Vater. Nach einer Ausbildung zur Damenschneiderin wandert sie mit ihrem Bruder nach Namibia aus, wo beide für eine Hamburger Baufirma arbeiten. „Die haben Straßen zwischen Windhoek, Swakopmund und der Walfischbucht angelegt.“
Dort lernt die Büroangestellte ihren späteren Ehemann, ebenfalls aus Berlin, kennen. Ein Jahrzehnt wird sie dem Hausfrauen- und Mutterdasein widmen. Zurückgekehrt nach Deutschland und ins Hessische, prägen ab 1981 viele Stationen den Berufsweg: Die vitale Frau arbeitet bei der Wiesbadener Pressevertriebsgesellschaft, als Verkäuferin in einem Schuh-Center, schließlich 17 Jahre lang in Casino und Cafeteria des Bundeskriminalamtes.
„Nach Schlaganfall und Operation war dann Schluss“ – Henriette K. ist zu diesem Zeitpunkt 70 Jahre alt. Heute muss sie mit einer Rente von 511 Euro plus Grundsicherung auskommen, für den monatlichen Bedarf bleiben 361 Euro. „Das ist nicht einfach, man lernt das Einteilen.“
Etwa 60 Euro könnten pro Woche für Lebensmittel und andere Notwendigkeiten ausgegeben werden. „Nicht nur wegen Corona sind Museums- oder gar Konzertbesuche unmöglich geworden.“ Dass früher mit der Mutter sogar ein Abonnement für die Oper gehalten wurde, ist schmerzliche Erinnerung.
Als „einzige Freude“ bezeichnet die Seniorin ihre 17-jährige Enkeltochter, mit der sie ein herzliches Verhältnis verbindet. Auch die Freundinnen in der Nachbarschaft sind wichtige Konstanten: „Auf meinem schönen Balkon spielen wir im Sommer gerne Karten.“
Zum Christfest steht jedenfalls ein Höhepunkt des Jahres an. „Meine Schwester aus Berlin besucht mich erstmals wieder nach 20 Jahren!“ Großer Wunsch ist der gemeinsame Gang in eine Wiesbadener Ausstellung. „Ob das aber klappt?“ Olaf Velte