Mit der Heirat beginnt 1965 eine unglückselige Zeit. „Die Eltern waren von Anfang an dagegen“, sagt Angela W. im Rückblick auf eine 32 Jahre währende Misere.
Der Ehemann habe nur sehr unregelmäßig gearbeitet, aber fleißig getrunken und sei manisch-depressiv gewesen. Auf der aus Nordrhein-Westfalen stammenden Frau lastet die Mühe der Familienversorgung, die Sorge um das Wohlergehen der beiden Kinder.
Weil wenig für die Alterssicherung getan wird, lebt die heute 78-Jährige von einer kleinen Rente nebst Grundsicherung. Nach Abzug von Miete und Nebenkosten für die Zweizimmerwohnung in Sachsenhausen bleiben 280 Euro im Monat übrig. Geld, das der täglichen Ernährung dient: Müsli, Joghurt, Käsebrötchen – „abends manchmal ein Stück Kuchen“.
Vor dem Hintergrund steigender Strompreise hat die Rentnerin sowohl das Kochen als auch das Wäschewaschen drastisch eingeschränkt. „Und zum Friseur gehe ich seit 1990 nicht mehr!“
Gesundheitlich ist Angela W. „gut beieinander“, hält sich jeden Abend mit einem Viertelstündchen Gymnastik fit. „Solange es geht“, will sie ihre täglichen Abläufe beibehalten und ihrer großen Leidenschaft frönen: „Lesen, lesen, lesen!“ Seit Jahrzehnten schon Mitglied von Lesezirkel und Bücherei, bildet reichhaltige Lektüre für die 78-Jährige eine wichtige Konstante nach einem unruhigen Dasein an verschiedenen Wohnorten.
Nach ihrer Kindheit und Jugend auf einem alten Bauerngehöft nahe Lemgo mitsamt Großeltern, Eltern, Kühen, Schweinen und Hühnern erlernt sie den Beruf der Einzelhandelskauffrau in einer Gelsenkirchener C&A-Filiale. „Abwerber“ locken die damals 18-Jährige in die Computerabteilung eines örtlichen Fensterherstellers.
Heirat und Geburt von Tochter und Sohn unterbrechen die Berufsexistenz aber nur kurz. Da der Mann nicht arbeiten will, übernimmt sie neben der Tätigkeit im Haushalt auch das Geldverdienen. „Ein Spagat, der kaum zu bewältigen war.“
Nach einem Zwischenspiel 1977 in Frankfurt zieht es das Ehepaar zurück nach Gelsenkirchen und an die holländische Grenze, wo ein Landhandelsgeschäft die Lebenshaltung sichern soll. Verkauft werden in selbstständiger Betriebsweise Gemüse, Blumen, Pflanzen, Obst, auch Getränke.
Es geht nicht gut. Der Mann ist Alkoholiker und gewalttätig, stirbt an einem Krebsleiden. Angela W. wagt 1999 einen Neuanfang in Frankfurt, wo mittlerweile ihre Kinder leben. Drei Jahre arbeitet sie noch an einem Firmenempfang, bevor sie die Zurückgezogenheit wählt.
„Ich bin lieber für mich“, sagt eine Frau, die stets acht Bücher „in der Vorbestellung“ hat, begeisterte Radiohörerin ist und ihre karge Situation geduldig erträgt. Ohne die Zuwendungen der Altenhilfe funktioniert es jedoch nicht. Seit elf Jahren – „ich bin so dankbar!“ – freut sich die Seniorin über die regelmäßige finanzielle Unterstützung, die immer als Rücklage herhalten muss.
„Für das, was unvermutet gebraucht wird, außer der Reihe zu Buche schlägt.“ Olaf Velte