Im August 1944 erfolgt ein Riss, der lebenslang nachwirkt. Emilia O. ist damals vier Jahre alt und mitsamt Mutter und Großeltern auf der Flucht vor den russischen Truppen.
In Tilsit, dem ostpreußischen Herkunftsort, ist alles zerstört. Kaum vorstellbare Schrecknisse, die in einem Satz gipfeln: „Meine Mama war vom Krieg seelisch kaputt.“ Das Kind wächst bei der Großmutter in Litauen auf.
Heute bewohnt die 80-Jährige in Eschborn zwei Zimmer und lebt von 300 Euro im Monat. Auf den Rollstuhl ist sie ebenso angewiesen wie auf eine Pflegerin, die sich täglich um den Haushalt kümmert. Wohngeld ergänzt die schmale Rente der 1998 nach Deutschland gekommenen Spätaussiedlerin. Ihren im vergangenen Jahr verstorbenen Ehemann hat sie lange gepflegt – „bis ich selbst krank wurde“.
Plötzlich am ganzen Körper gelähmt, ist für Emilia O. eine Operation mitsamt viermonatiger Nachsorge unumgänglich. Trotz der Misere hat die Seniorin den Mut nicht verloren: „Ich bin zufrieden und dankbar.“ Dankbar für das deutsche Sozialnetz, dankbar für die regelmäßige Unterstützung durch die Altenhilfe. Dass ihre Tochter in der Nähe wohnt, ist ein Glück. „Mein Sohn ist ja in Litauen geblieben.“
Litauen. Wo Emilia O. nach dem Tod der Großmutter mit 13 Jahren in ein Kinderheim gesteckt und ihrer Herkunft beraubt wird. „Mein Name und meine Abstammung wurden verändert.“ Das Deutsche ist unter sowjetischer Besatzung verboten, wird verfolgt. Längst hat man ihre Mutter ins östliche Nirgendwo verschleppt. Familiäre Bande sind zerrissen. In einer Kombinatsfabrik wird das Mädchen schließlich zur Weberin ausgebildet.
1964 heiratet sie, zieht zwei Kinder groß. „Viel verdient haben wir nicht.“ Nach der Umschulung wird ein Kindergarten für ein Jahrzehnt zum Arbeitsplatz. In Kaunas organisiert sie anschließend in einem Stadtbezirk das staatliche Straßenreinigungswesen, bleibt bis zum Rentenalter im Amt. Es ist kein unbeschwertes Dasein: „Unter der Besatzungsmacht war immer alles sehr schwierig.“
Als das Land „frei wird“, ist kein Bleiben mehr. Ein in Deutschland lebender Onkel besorgt in Berlin den Taufschein, ebnet den Weg zur Ausreise. „Nach all der Zeit hatte ich meine Identität wieder!“, sagt Emilia O., die nun ihre „letzten Tage“ in Ruhe und Frieden verbringen möchte. Olaf Velte