Die Dörfer hinter dem Taunuskamm waren die längsten Jahre ihres Lebens ihre Welt. Eine furchtbare Welt in einem „schlechten Elternhaus“ war das in frühen Jahren.
So hat sie es immer empfunden, aber nie gelernt, einen eigenen Willen zu äußern. Das war so nicht gewünscht. Als „Bauerntrampel“ sei sie da aufgewachsen, sagt Marlies W. im Rückblick auf diese Zeit. „Ich hatte ja von nix eine Ahnung.“
Nach der Volksschule sollte sie keine Ausbildung machen, nur „schaffen gehen, damit Geld beikommt“, hatte die Mutter gesagt. Kaum 15 Jahre alt, fuhr sie zur Arbeit nach Köppern.
Da begegnete ihr eines Tages ein acht Jahre älterer Mann. Netter Kerl, schnell war sie schwanger, hatte ja von nichts eine Ahnung. Aufklärung war Mitte der 60er-Jahre noch nicht so angesagt im hinteren Taunus. Die Folgen musste sie tragen.
Es war der Anfang einer Leidensgeschichte. Erst nach vielen Jahren entkam die heute 74-jährige Marlies W. dem, was sie mal „schlechtes Leben“, mal „nicht schönes Leben“ nennt. Der kurzfristige Traumprinz entpuppte sich schnell als rüder Macho, lebte selbst in Saus und Braus mit Geschäften in der Baubranche, sein unbedarftes Mädchen beutete er aus.
Sie war für die Hausarbeit zuständig, war seine Sekretärin, angemeldet hat er sie nie, geschweige denn bezahlt. Mit 18 bekam sie ihre zweite Tochter und damit noch mehr Arbeit. „Er ist nach Kuba geflogen, ich war noch nie in Urlaub.“ Zum Leben hatte er ihr ein Zimmer im Keller zugeteilt.
Marlies W. hat nie geklagt. Erst als sie noch zusätzlich als Putzfrau gearbeitet hat, fast 20 Jahre lang, habe sie von ihrer Arbeitgeberin gelernt, was es heißt, selbstständig zu sein. Da hätte sie ein bisschen Geld zurücklegen können, habe aber immer noch geglaubt, dass „mein Mann mich nie im Stich lässt“.
Und es Jahre später erst geschafft, mit Hilfe von Bekannten aus dem eingekerkerten Leben in Neu-Anspach zu flüchten. Die beiden Töchter waren da längst weg, die ältere ist mit 14 Jahren nach Frankfurt abgehauen, hat acht Kinder, die andere lebt in Eschbach. Von beiden kann Marlies W. keine Unterstützung erwarten.
Heute wohnt sie in Usingen in einer kleinen Sozialwohnung in netter Umgebung mit hilfsbereiten Menschen. „Zwei Zimmer, Balkon, ein kleines Kätzchen, ich hab’s schön hier.“ Ein neues Leben hat sie hier mit über 60 Jahren angefangen, genießt jede kleine Unterstützung, jedes freundliche Wort.
Die Grundsicherung reicht gerade so fürs Leben. Ein kleines Auto teilt sie sich mit einem Nachbarn. Zu Fuß geht es noch bis zum nahen Rewe, bei weiteren Wegen machen die vom Putzen geschundenen Knie nicht mehr mit.
Von der Caritas wird sie unterstützt und seit Anfang des Jahres von der FR-Altenhilfe. „Ihr tut mir so gut, ich zehre von allen guten Worten und Taten.“ Sie sagt es mit Tränen in den Augen nach allen Qualen in ihrem Leben.
Im Januar ist die Autoversicherung fällig, die Hälfte hat sie schon angespart. Eine neue Winterjacke wäre auch schön, ihre jetzige ist schon fast 20 Jahre alt. Jürgen Streicher